Über das Sehen, das Zuhören und die Kunst, das Naheliegende wiederzufinden.
Manchmal tauchen sie plötzlich auf – Blickwinkel, die man längst vergessen hatte.
Ein Streifen Sonnenlicht, eine Bewegung in der Luft, ein alter Gedanke.
Ein stilles Erinnern daran, wie viel man sieht, wenn man endlich wieder hinschaut.
Vergessene Blickwinkel
Neulich, beim Frühstück, ist mir was aufgefallen.
Ich saß da, der Tee wurde langsam kalt, und die Sonne kam durch das Fenster – genau so, dass sie einen schmalen Streifen über die Tischkante legte.
Ich hab den Staub gesehen, wie er darin getanzt hat – ganz ruhig, wie kleine Welten für sich.
Und da hab ich gemerkt: Ich hab das ewig nicht mehr gesehen.
Also, wirklich gesehen.
Früher, als ich jünger war, war mein Blick immer irgendwohin gerichtet – nach vorne, meistens.
Ziele, Pläne, das Übliche. Ich dachte, so muss das sein.
Man hat ja schließlich Verantwortung, Termine, Leute, die was erwarten.
Und dabei hab ich vieles übersehen, was direkt vor mir lag.
Diese kleinen Momente, die sich eigentlich von selbst zeigen – wenn man ihnen ein bisschen Zeit lässt.
Ich erinnere mich an einen Tag, da war ich mit meinem Vater draußen – ich muss Anfang zwanzig gewesen sein.
Wir hatten uns gestritten, irgendwas über den richtigen Weg im Leben, wer weiß das heute noch genau.
Ich weiß nur, dass ich dachte, ich hätte recht.
Und er schwieg, was mich nur noch wütender machte.
Später, Jahre später, hab ich verstanden, dass er einfach aus einem anderen Blickwinkel sprach.
Nicht besser, nicht schlechter – nur anders.
Damals konnte ich das nicht sehen.
Heute sehe ich es fast zu klar.
Ich glaub, das ist das Schwierige daran:
Man merkt oft erst im Nachhinein, was man alles nicht gesehen hat.
Und dann steht dieser vergessene Blickwinkel plötzlich mitten im Raum, schaut dich an und sagt nichts.
Er steht einfach da – und du weißt: Das hättest du früher merken können.
Seitdem versuch ich, meine Wahrnehmung ein bisschen zu trainieren.
Nicht groß, nichts Besonderes – einfach zwischendurch mal stillhalten.
Beim Spazierengehen. Beim Zähneputzen.
Manchmal, wenn ich jemanden reden höre und spüre, dass meine Gedanken schon wieder davongaloppieren.
Dann sag ich mir innerlich:
„Halt mal kurz an. Schau hin. Hör zu.“
Manchmal entdecke ich dabei Dinge, die ich längst vergessen hatte.
Wie das Lächeln meiner Nachbarin, die ich sonst nur flüchtig grüße.
Oder das Gefühl, wenn Wind nach Regen riecht.
Oder das alte Bild an der Wand, das ich aufgehängt und danach nie wieder richtig betrachtet habe.
Das sind keine großen Erkenntnisse, aber sie halten mich wach.
Und vielleicht ist das der Trick: wach zu bleiben.
Nicht im Sinne von rastlos – eher im Sinne von aufmerksam.
So wie man eine alte Uhr am Laufen hält, indem man sie hin und wieder aufzieht.
Ich glaube, jeder von uns hat solche vergessenen Blickwinkel.
Manche liegen ganz still in der Ecke, andere klopfen irgendwann von selbst an.
Und wenn man sie rechtzeitig bemerkt, kann man vieles im Gleichgewicht halten, bevor es kippt.
Nicht perfekt, nicht immer.
Aber oft genug, um sich selbst wieder ein Stück näherzukommen.
Und wenn du mich fragst –
das Leben wird nicht leichter, wenn man älter wird.
Aber es wird klarer.
Weil man irgendwann lernt,
dass der wichtigste Blickwinkel oft genau der ist,
den man fast vergessen hätte.
Der, der dich daran erinnert,
dass das Leben nicht auf dich wartet –
es ist längst da.
Man muss nur wieder hinschauen.



